Volvo und Design? Das ist mehr als Lego und Stein. Die frühen 140er und 164er Volvos sind in der Volvo-Historie die Verknüpfung des klassischen und des modernen Designs mit einem reichlichen Schuß britischem Stil, der speziell diese Modellreihe prägte. Und das war nicht nur die Axt im Tonklumpen
Er ist der geistige Vater des 164: Jan Wilsgaard. Als gelernter Bildhauer (nein, jetzt nicht wieder an die Axt denken) prägte er das Volvo-Design seit den Tagen des Amazon. Im Wandel der Zeit schuf er die 140er Serie als einen Meilenstein des Industriedesigns, das die Gestaltungsgrundlage für alle großen Volvos bis in die Neunziger Jahre war.
»Das Funktionelle ist oft das Schöne. Man folgt den Gesetzen der Natur und macht die Dinge nicht komplizierter, als sie wirklich sind. Funktionelle und vernünftige Lösungen sind oft die attraktivsten.« Jan Wilsgaard
Kommt mehr Zeit, geht Mode wieder. Kommt noch mehr Zeit, ist alles wieder gut.
Mit der Form ist es wie mit der Technik. Das einzig Sichere an der Mode ist, dass sie aus der Mode kommen wird. Ende der Sechziger Jahre wirkte die hochbordige 140er Karosserie beinahe antiquierter als heute. Damals waren tiefe Gürtellinien en vogue und viele neue Automodelle der Zeit bestätigten dies – so z. B. Audi 100, MB W110/114/115, BMW E3. Auch die Räder waren allesamt deutlich kleiner. 13" und 14"-Felgen waren ein Standard, über den selbst die Mercedes-Benz S-Klasse nicht hinauskam. Das 15"-Format von Porsche, SAAB und Volvo galt als ziemlich exotisch und mit Blick auf den VW Käfer auch als altmodisch. Und was ist dreißig Jahre später daraus geworden? Heute baut man wieder Autos mit höherer Gürtellinie und 15"-Räder sind eine bescheidene Standardgröße.
Wer heutige Limousinen mit einem Volvo 164 vergleicht, für den brechen Weltbilder zusamen: Wieso wirken die so viel fülliger als die im Vergleich geradzu zierlichen Schwedenpanzer? Wieviel A-Säule braucht ein Mensch? Wo fängt eine Stoßstange an? Während heutige Oberklasse-Automobile groß sind, aber klein aussehen wollen, machten die Volvos nie einen Hehl daraus. dass sie große und schwere Wagen sind. Das Ergebnis war eine Formgebung, die in sich geschlossen war und insgesamt sehr erwachsen wirkte. Die Optik eines Pakets Butter kommt den 100er Volvos recht nahe.
Gemein? Nein.
Gemein ist, was z.B. Liebhaber bayrischer Propellerlimousinen heute ertragen müssen. Ein vergleichbares Paket Butter sähe aus, wie nach der Frühstücksmesserattacke einer ausgehungerten 5er WG. Doch manche echte Gefälligkeit des heutigen Autodesigns ist gestriger, als gedacht.
Vier-Augen-Gesicht oder Plakettengrill? Wer beides mag, muss sich eigentlich nicht zwischen Mercedes E-Klasse und Audi A6 entscheiden. Alles schon 164 mal dagewesen ... Und wo hat Volvo beim 164 abgeguckt? Nicht beim ebenfalls 1968 erschienenen Jaguar XJ6 oder dessen Vorgängern, sondern bei sich selbst. Der 164 ist einem bereits 1958 entstandenen Pototyp einer Volvo Luxuslimousine wie aus dem Gesicht geschnitten. Dieser P358 ging leider nie in Serie, doch seine Gene warteten zehn Jahre im Stillen auf ein Comeback.
Wo ein Designer ist, ist auch ein Rotstift. Auch wenn man die nörgelnden Kaufleute am liebsten gleich mit im Tonmodell verarbeiten möchte: Kompromisse müssen sein. Aber müssen Kompromisse sichtbar sein? Bei Volvo waren sie es manchmal, wenn auch unfreiwillig.
Das berühmte »Ordensband«, der diagonale Streifen am Kühlergrill, war bei frühen 164ern nur angeclipst und legte sich selbst auf Pressephotos schonmal schlafen – in Eintracht mit den Photographen solcher Bilder. Der prominenteste Design-Kompromiß ist aber die hintere Seitentür beim 145 Kombi. »Ich bin eigentlich eine Limousinentür« steht unübersehbar am oberen Türrahmen.
Nur einen Kompromiss gab es bei Volvo zum Glück nie: den der Funktionalität. Alles was schön war, funktionierte auch.
Keine Frage – Volvos Formen waren keine aufregenden und die Tatsache, dass praktisch jede Autozeichnung eines Dreikäsehochs irgendwie nach Volvo ausieht, macht klar, um was es den Jungs um Jan Wilsgaard bei der Formgebung ging. Die Volvo-Silhouette sollte einfach und gut und einfach gut werden. Wer Lust hat, kann mal die Formgbung der Radläufe und Ausstellfenster auf sich wirken lassen und das mit dem eher ungehobelten Weltbild vergleichen, das man über Volvos häufig im Hinterkopf hat. Kaum ein Winkel, kaum eine Linie, die nicht absolut harmonisch gestaltet wäre. Zum Beispiel geht der Übergang der kantigen Seitenschulter beim 164 butterweich in die runden Scheinwerfer über.
Wer sich die Oberkante des Kofferaumdeckels beim 140/164 und beim S80 (1998-2006) ansieht, erkennt sofort die stilistische Gemeinsamkeit, die neben den charakteristischen Seitenschultern ein typisches Volvo-Designmerkmal ist - der gespannte Bogen. Wie ein Flitzebogen, der kurz vor dem Abschuß steht, hatte Wilsgaard schon dem Amazon diese charakteristische Schulter spendiert, die sich gewissermaßen als Fensterbank über die ganze Fahrzeuglänge erstreckt. Diese Schultern wurde in der ganzen 100er und 200er Serie ausgiebig zelebriert, anschließend vergessen und feierten mit dem ersten S80 wieder ihr Comeback.
Bei den frühen 140er und 164er Volvos gab es eine hochinteressante Interpretation dieses gespannten Bogens, der sich hier nicht nur als Karosserieschulter (Volvo-intern »cat-walk« genannt) und am Kofferraumdeckel wiederfand. Es gibt nämlich eine Grundform, zu der dieser Bogen erweitert wurde, die an den unterschiedlichsten Stellen der Karosserie auftaucht. Diese Grundform beantwortet nicht nur endgültig die Frage, ob Volvos denn überhaupt »Design haben«, sondern sie zeigt, wie interessant das Volvo-Design ist, wenn man sich erstmal darin verguckt hat.
Dieser gebogene Rahmen, der sich nach unten etwas verjüngt, ist das maßgebliche Design-Element der 100er Volvos, das nur dort und sonst nirgendwo sonst eingesetzt wurde. Durch die abgerundeten unteren Ecken bekommt die Form sogar ein Lächeln ins Gesicht. Der Rahmen taucht an den unterscheidlichsten Stellen auf und trägt maßgeblich dazu bei, dass diese Volvos »wie aus einem Guß« aussehen, auch wenn man vorher nicht wußte, warum. Und dort ist der Rahmen zu finden (siehe auch Photos auf dieser Seite):
• Als umlaufende Kante am Heckblech
• Als Rahmen des alten Armaturenträgers
• In gestauchter Form als 164er Kühlergrill
• Als Grill-/Lampenrahmen der 140er Front
Mit dem Facelift der 1973er Modelle verschwand der markante Design-Rahmen fast vollständig aus der Silhuette der Volvos – und mit ihm diese sympathische Formensprache des alten, klassischen Schwedenstahls.
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